Deutschland

Berücksichtigung der Belange behinderter Personen bei Ausstattung und Betrieb von Straßentunneln

Die Gewährleistung und (ständige) Verbesserung der Sicherheit von Straßentunneln ist in Deutschland ein wichtiges und allgemein anerkanntes Ziel. In besonderem Maße gilt das bei der Berücksichtigung der Belange behinderter Personen in Straßentunneln, wie im folgenden Beitrag dargestellt wird.

Ausgangslage
Die Verbesserung der Mobilität behinderter und anderer Personen mit Mobilitätsbeeinträchtigung im öffentlichen Verkehrsraum wurde in Deutschland bereits vor der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention als wichtige Aufgabe angesehen. So wurde mit der Änderung des Fernstraßengesetzes (FStrG) in Verbindung mit dem Erlass des Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes (BGG) das Ziel verfolgt, möglichst weitreichende Bar-rierefreiheit für Bundesfern-straßen einschließlich von Straßentunneln zu erreichen. Auch nach der EG-Richtlinie 2004/54/EG vom 29. April 2004 über Mindestanforderungen an Tunnel im transeuropäischen Straßennetz sollte ein besonderes Augenmerk auf die Belange behinderter Personen bei der Nutzung der Sicherheitseinrichtungen eines Straßentunnels gelegt werden.
Die Gewährleistung und (ständige) Verbesserung der Sicherheit von Straßentunneln ist in Deutschland ein wichtiges und allgemein anerkanntes Ziel. Dies zeigt sich in der Bereitstellung entsprechender Finanz-mittel sowie den gesetzlichen Vorschriften und Technischen Standards – u. a. in den „Richtlinien für die Ausstattung und den Betrieb von Straßentunneln (RABT 2006)“. Wesentliche Sicherheitsmaßnahmen, auch in jüngster Zeit vorgenommene Verbesserungen, sind für behinderte und mobilitätseingeschränkte Personen besonders bedeutsam. Beispielhaft können hier genannt werden:
– ständig mit Personal besetzte Tunnelleitzentralen (Bild 1)
– Störfallerkennung durch Verkehrsdatenerfassung und Videotechnik
– deutliche Kennzeichnung von Fluchtwegen und Notausgängen
– Blitzleuchten bei Brandalarm
– automatische Tunnelsperrung bei Störfällen
– lärmdichte Notrufkabinen etc.
Zur verstärkten Berücksich-tigung der Belange behinderter Personen sind jedoch ergänzende Untersuchungen nötig. Mit der Durchführung dieser Untersuchungen hat die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) in Vertretung des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) die Studiengesellschaft für unterirdische Verkehrsanlagen (STUVA) beauftragt. Ziel ist es, das Sicherheitskonzept für Straßentunnel im Hinblick auf die Anforderungen behinderter Verkehrsteilnehmer anzupassen und ergänzende Maßnahmen zur Verbesserung der Selbst- und Fremdrettungsmöglichkeiten für mobilitätsbeeinträchtigte, aber auch andere Tunnelnutzer, unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität und Umsetzbarkeit aufzuzeigen. Es sollen konkrete Empfehlungen zur Umsetzung der neuen gesetzlichen Vorgaben und Vorschläge zur Fortschreibung des für Straßentunnel geltenden Regelwerkes aufgestellt werden.

Untersuchungsansatz
Ein barrierefreier Verkehrsraum soll so gestaltet sein, dass behinderte Menschen diesen grundsätzlich ohne besondere Erschwernis und ohne fremde Hilfe nutzen können. Im Rahmen des Forschungsvorhabens werden Straßentunnel betrachtet, die ausschließlich dem Kraftfahrzeugverkehr dienen. Im Gegensatz zum sonstigen öffentlichen Verkehrsraum dürfen in Tunneln Kraftfahrzeuge nur in Ausnahmesituationen (Stau, Haltsignal, Panne, Brand, Unfall) angehalten und nur in Notfällen (z. B. zur Behebung einer Panne, Betätigung einer stationären Notrufeinrichtung, Eigen- bzw. Fremdrettung) verlassen werden. Folglich sind hier nahezu ausschließlich Anforderungen zu berücksichtigen, die sich aus der Bewältigung von Notfällen ergeben.
In Notfällen mit Gefahr für Leib und Leben ist der Gesichts-punkt der Selbstbestimmung nachrangig: auch Schwierigkeiten können in Kauf genommen werden, soweit sie die Bewältigung von Notfällen nicht verhindern. Unter dieser Maßgabe kann es vertretbar sein, „in sicheren Bereichen“ von Tunnel-anlagen, abweichend von den Regeln barrierefreier Gestal-tung, lediglich „barrierearme“ Lösungen zu realisieren. Sicher in diesem Sinne sind Bereiche hinter rauchdichten Feuerschutztüren.
Bei Anlagen in der Tunnelröhre außerhalb von „sicheren Bereichen“ sind grundsätzlich „barrierefreie“ Lösungen anzustreben. Kann bei Bestandstunneln die Forderung aus technisch-wirtschaftlichen Gründen nicht umgesetzt werden, sollten alternative Kompensationsmaßnahmen erfolgen (wenn sich z. B. Treppen in kurzen Querschlägen nicht durch Rampen ersetzen lassen, sollten für diesen Bereich zusätzliche Maßnahmen getroffen werden, wie etwa gesonderter „Notruf-knopf“, optimierte Videoüberwachung, abgestimmtes Ret-tungsmanagement etc.).
Für die Bewältigung von Notfällen werden 3 Notfallsze-narien betrachtet:
N 1: Panne oder Unfall im Tunnel ohne Brand
N 2: Panne oder Unfall im Tunnel mit Brand
N 3: Verkehrsstörung im Stra-ßentunnel, ggf. verursacht durch Brand.
Bei allen Szenarien wird unterstellt, dass nur wenige (behinderte) Personen betroffen sind.
Berücksichtigt werden dabei sowohl behinderte und mobilitätseingeschränkte Personen, die als Selbstfahrer von Kraft-fahrzeugen von Notfällen in Straßentunneln betroffen sein können (u. a. Rollstuhl- und Rollatorbenutzer, gehbehinderte Menschen, schwerhörige, gehörlose oder ertaubte Menschen, Menschen mit Einschränkungen des Sprech- und Sprachvermögens, sehbehinderte Menschen etc.), als auch behinderte und mobilitätseingeschränkte Verkehrsteilnehmer, die als Mitfahrer Gefahrensituationen in Straßentunneln – insbesondere bei Brand – ausgesetzt sein können (z. B. blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen, Menschen mit erheblichen kognitiven Einschrän-kungen oder erheblichen Konzentrations- und Orientierungsschwierigkeiten, kleine Kinder etc.).
Die Voraussetzungen und Merkmale für die Selbstrettung behinderter und mobilitätseingeschränkter Personen sind für die betrachteten Notfallszenarien in Tabelle 1 zusammengefasst.

Ergebnisse
Im Rahmen des Forschungsvorhabens wurden dafür zahlreiche praxisnahe und praktikable Umsetzungsmöglichkeiten erarbeitet und anhand praxisrelevanter Kriterien systematisch bewertet.
Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt anhand einer tabellarischen Bewertungsmatrix, deren Struktur – einschließlich der Bewertungskriterien – in Tabelle 2 dargestellt ist. Darauf aufbauend erfolgen Vorschläge für die Umsetzung geeigneter Maßnahmen in Bestandstunneln bzw. in Neubautunneln sowie die Angabe von Prioritäten. Außerdem werden Hinweise auf ergänzende und alternative Umsetzungsmöglichkeiten gegeben.
Als besonders bedeutsame Maßnahmen für die Verbesserung des Sicherheitsniveaus für behinderte Personen werden angesehen:
– Barrierefreie Zugänglichkeit und Nutzbarkeit von Notgeh-wegen vor Notausgängen und Notrufanlagen sowie barrierefreie Bedienbarkeit von Türen in Notausgängen
– Ausstattung von Notrufan-lagen mit barrierefreien Notrufknöpfen (Bild 2)
– Mobile Kommunikation einschließlich automatischer Ortung
– Weitere Verkürzung der Notausgangsabstände
– Zwei-Sinne-Prinzip
– Sämtliche flankierenden Maßnahmen (Bild 3).
Bei Tunneln mit einer Länge von weniger als 400 m werden für das Szenario Brand keine zusätzlichen Maßnahmen gefordert.
Zu wesentlichen Teilaspekten, z. B. der Bewältigung von Notfällen durch Rollatorbenutzer, dem Einsatz barrierefreier Notausgangstüren unter den besonderen Bedingungen von Straßentunneln sowie der Ortung des Notfallbeteiligten in Tunneln über Mobiltelefon, besteht noch weiterer, singulärer Entwicklungs- und Forschungsbedarf.
Die Ergebnisse des Vorhabens zeigen gleichwohl, dass Maßnahmen zur (verstärkten) Berücksichtigung der Belange behinderter Verkehrsteilnehmer in Straßentunneln notwendig, aber auch machbar sind. Die dargestellten Lösungsvorschläge sind dazu geeignet, die Zielvorgabe möglichst weitreichend barrierefreier Gestaltung von Straßentunneln planvoll umzusetzen. Gleichzeitig sind mit den vorgeschlagenen Maßnahmen, wie der konsequenten Anwendung des Zwei-Sinne-Prinzips oder der weiteren Verkürzung der Notausgangsabstände, in vielen Fällen Vorteile für alle Tunnelnutzer verbunden.


Umsetzung
Von den Vorschlägen, die für eine bessere Berücksichtigung der Belange behinderter Personen in Straßentunneln als umsetzbar und sinnvoll erachtet wurden, sind aus bautechnischer Sicht derzeit folgende Maßnahmen zur Umsetzung vorgesehen:
– Absenkung der Notgehwege vor Notausgängen und Notrufkabinen
– Taktile Aufmerksamkeitsfelder vor Notausgängen/Notrufkabinen und im jeweils gegenüberliegenden Notgehwegbereich
– Besondere Aufenthaltsbereiche mit entsprechenden Kommunikationsmöglichkeiten bei Fluchttreppenhäusern im sicheren Bereich hinter der Feuerschutztür
– Anrampungen im Bereich der Nothalte- und Pannenbucht.
In den entsprechenden bautechnischen Regelwerken einschließlich technischer Richtzeichnungen ist mit der Umsetzung bzw. Darstellung der beschriebenen Maßnahmen bereits begonnen worden.
Aus betriebstechnischer Sicht wird die Umsetzung insbesondere derjenigen vorgeschlagenen Maßnahmen angestrebt, die ohne weiteren Untersuchungsbedarf sowohl in neuen Tunneln als auch in bestehenden Tunneln im Zuge der Nachrüstung umgesetzt werden können. Dazu zählende Maßnahmen sind in Tabelle 3 aufgelistet.
Weitere ebenfalls als Forschungsergebnisse vorgeschlagene Maßnahmen, wie Absetzen einer Notfallmeldung über Systeme zur automatischen Detektion oder Möglichkeiten der Information bzw. Warnung nicht direkt beteiligter Verkehrsteilnehmer bei Störfällen, werden in den jeweils zuständigen Gremien noch intensiv diskutiert.
Aufgrund der ausgewählten Maßnahmen werden detaillierte Formulierungsvorschläge für die verstärkte Berücksichtigung der Belange behinderter Per-sonen in den „Richtlinien für die Ausstattung und den Betrieb von Straßentunneln (RABT)“ entwickelt. Die RABT werden derzeit fortgeschrieben. Ein aktueller Gliederungsentwurf sieht eine zusammenfassende Darstellung der Maßnah-men für behinderte Tunnelnut-zer in einem eigenen Kapitel vor.
Für eine zügige Umsetzung der vorstehend beschriebenen Maßnahmen – bereits vor Abschluss der Fortschreibung der entsprechenden Regelwerke – ist beabsichtigt, bei einzelnen Baumaßnahmen von Bauher-renseite objektbezogen durch Ergänzung der betriebstechnischen Entwurfsunterlagen auf die Umsetzung hinzuweisen. Außerdem wird derzeit eine mögliche Ergänzung der betriebstechnischen Entwurfsrichtlinie geprüft.

Zusammenfassung/Ausblick
Die Gewährleistung und (ständige) Verbesserung der Sicherheit von Straßentunneln ist in Deutschland ein wichtiges und allgemein anerkanntes Ziel. Dies zeigt sich insbesondere in der Bereitstellung entsprechender Finanzmittel sowie in der Fortschreibung gesetzlicher Vorschriften und Technischen Standards. In diesem Kontext sind auch die wesentlichen, in jüngster Zeit vorgenommene Verbesserungen bei Sicherheitsmaßnahmen zu sehen.
Vorgaben der mit dem Be-hindertengleichstellungsgesetz (BGG) erfolgten Änderung des Fernstraßengesetzes (FStrG) zur Berücksichtigung der Belange behinderter und anderer Personen mit Mobilitätsbeeinträchtigung werden schrittweise mit dem Ziel umgesetzt, möglichst weitreichende Barrierefreiheit zu erreichen. Die geplanten Maßnahmen tragen dazu maßgeblich bei.
Im Vergleich zu anderen öffentlichen Verkehrsflächen ist bei Straßentunneln zu berücksichtigen, dass sich im Normalbetrieb kein Verkehrsteilnehmer außerhalb des Fahrzeuges in der Tunnelröhre aufhält bzw. bewegt. Im Brandfall sollen die nach Regelwerk vorgesehenen Maß-nahmen insbesondere die Selbstrettung sowohl von nichtbehinderten als auch behinderten Personen gewährleisten. Bei sonstigen Störfällen (Unfall, Panne) soll neben einer raschen gegenseitigen Information die geordnete Abwicklung des Tunnelbetriebes sicher gestellt werden.
Durch eine zeitlich abgestufte Umsetzung verschiedener Maßnahmen werden Erfahrungen und Erkenntnisse über die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen als auch von Maßnahmenkombinationen erwartet.
Die Ergebnisse des For-schungsvorhabens sind in einem ausführlichen und anschaulichen Bericht zusammengefasst. Dieser Forschungsbericht ist als Bericht B69 in der Schriftenreihe der BASt [1] unter dem Titel „Berücksichtigung der Belange behinderter Per-sonen in Straßentunneln“ veröffentlicht. Zurzeit werden bereits die maßgebenden Regelwerke für den Straßentunnelbau und -betrieb mit dem Ziel fortgeschrieben, eine weitere Erhöhung der Tunnelsicherheit zu erreichen. Die zügige Umsetzung wesentlicher For-schungsergebnisse im Regelwerk ist somit gewährleistet.


Literatur
[1] Wagener, T.; Grossmann, H.; Hintzke, A.; Sieger, V.: „Berücksichtigung der Belange behinderter Personen in Straßentunneln“; Berichte der Bun-desanstalt für Straßenwesen, 2009.

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