Tunnel nach Bad Cannstatt – Unterfahren einer Fernwärmeleitung unter schwierigen Bedingungen

Beim Auffahren des Fernbahntunnels Richtung Bad Cannstatt im Rahmen des Großprojekts Stuttgart 21 wurden unerwartet ein Schacht und ein Pressrohr DN 2000 der Fernwärmeversorgung angetroffen. Der Vortrieb wurde daraufhin zunächst unter den Bauteilen der EnBW hindurchgeführt. Danach war zu untersuchen, wie der Tunnel in planmäßige Endlage verlegt werden kann ohne den Betrieb der Fernwärmeversorgung zu unterbrechen. Zunächst sollte die Leitung nach Norden zwischen die beiden Tunnelröhren verlegt werden. Diese Lösung musste jedoch kurz vor der Ausführungsreife wegen bestehender Zielkonflikte verworfen werden. Umgesetzt wurde schließlich eine Planung, bei der der Bestand der Fernwärmeversorgung durch zusätzliche Maßnahmen gesichert und anschließend durch den Tunnel mit einer abgeflachten Firste unterfahren wurde.

1 Projekt und Aufgabenstellung

Im Rahmen des Eisenbahn-Großprojekts Stuttgart 21 werden die zwei Röhren des Fernbahntunnels vom Hauptbahnhof in Richtung Bad Cannstatt gebaut. Bei der Herstellung des Rohrschirms im Zuge des Vortriebs wurden unerwartet ein Schacht und ein Pressrohr DN 2000 der Fernwärmeversorgung der Stadt Stuttgart im Firstbereich des Tunnelquerschnitts angetroffen (Bild 1). Im dem Pressrohr verlaufen zwei Hauptleitungen DN 600, die zwischen den Schächten I6UN155 und A4UN003 die Nordbahnhofstraße mit zahlreichen Versorgungsleitungen und die Stuttgarter Straßenbahn in Dükerlage unterqueren (Bild 2). Da eine Außerbetriebnahme der Leitungen nicht möglich war, wurde der Vortrieb zunächst unter den Bauteilen der Fernwärmeversorgung hindurchgeführt. Der Tunnel wurde dafür auf einer Länge von ca. 50 m temporär abgesenkt. Der Vortrieb erfolgte analog zum Regelvortrieb im Schutze von Rohrschirmen (Bild 3 + 4).

In der Folge war eine bautechnische Lösung zu erarbeiten, wie der Tunnel in planmäßige Endlage verlegt werden kann. Dabei war die Sicherstellung des laufenden Betriebs der Fernwärmeversorgung als zwingende planerische Randbedingung zu berücksichtigen.

2 Leitungsverlegung mit Schachtneubau
2.1 Innerstädtische Randbedingungen

Zunächst wurde nach Vorgabe des Eigentümers EnBW (Energie Baden-Württemberg AG) eine Vorzugslösung erarbeitet, bei der die Fernwärmeleitung nach Norden zwischen die beiden Röhren des Fernbahntunnels verlegt werden sollte. Dazu sollte ein neuer Schacht abgeteuft werden, von dem ein Stollen in Richtung Osten aufgefahren und an den Bestand angeschlossen werden sollte (Bild 1).

Für die Planung waren zahlreiche Abstimmungen mit der EnBW und weiteren Projektbeteiligten zu führen, die von der Lösung betroffen waren. Dies sind die Spartenträger für Gas, Wasser und Strom, die Stadtentwässerung Stuttgart sowie zahlreiche Telekommunikationsanbieter. Zudem war eine in der Nordbahnhofstraße verlaufende Strecke der Stuttgarter Straßenbahn AG (SSB) zu unterqueren, auf die die Maßnahme unmittelbaren Einfluss hatte. Weiterhin war durch den neuen Schacht eine bestehende Brücke der DB Netz, welche sich angrenzend befindet, betroffen (Bild 1 + 5).

Die Baugruben hätten zudem Eingriffe in den öffentlichen Verkehrsraum erfordert und mussten daher auch mit der Landeshauptstadt Stuttgart abgestimmt werden. Die ohnehin an dieser Stelle besondere Verkehrsführung umfasste zudem eine Hauptradroute. Unter diesen schwierigen innerstädtischen Randbedingungen war die durch den Eigentümer der Leitung im Dezember 2016 vorgegebene Leitungsverlegung mit Schachtneubau zu planen.

2.2 Zielkonflikte

Im Zuge der Ausführungsplanung stellte sich heraus, dass zwischen den Projektbeteiligten zahlreiche Zielkonflikte vorhanden waren, die nicht ohne weiteres aufzulösen waren. So führte etwa die für das geplante Schachtbauwerk erforderliche Verlegung der Telekommunikationsleitungen zu weiteren Eingriffen in die Sparten Gas, Wasser und Strom. Eine örtliche Verschiebung des Schachtbauwerks zur Vermeidung der Konflikte mit den Spartenträgern hatte wiederum einen Zielkonflikt mit der bestehenden Bahntrasse und den Anlagen der SSB zur Folge.

Die aus den Untersuchungen resultierende mögliche Lage des Schachtbauwerkes und die damit verbundene Baustelleneinrichtung hätten die Umleitung sämtlicher Verkehrsbeziehungen erfordert und wurden daher von der Landeshauptstadt Stuttgart abgelehnt.

Trotz dieser Randbedingungen konnte die Ausführungsplanung für die von der EnBW vorgegebene Lösung von der DB Projekt Stuttgart–Ulm GmbH (DB PSU) gemeinsam mit WBI weitestgehend erstellt werden. Da sich jedoch im Planungsprozess immer wieder neue Schwierigkeiten zeigten, schien die vollständige Umsetzbarkeit der Lösung nach einem gewissen Zeitraum schlicht nicht mehr gegeben. Nach zahlreichen Abstimmungsrunden u. a. mit den Spartenträgern und der Verkehrsbehörde der Landeshauptstadt Stuttgart entschied sich die DB PSU im September 2018 daher dazu, wieder Gespräche mit der EnBW über eine alternative Lösung aufzunehmen.

3 Variante Leitungssicherung 3.1 Abstimmungen mit der EnBW

In einer frühen Planungsphase wurde eine Variante betrachtet, bei der die Leitungen der Fernwärmeversorgung im Bestand gesichert werden sollten. Diese Variante war jedoch von der EnBW aufgrund der damit verbundenen Eingriffe in ihre Anlagen abgelehnt worden. Vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Leitungsverlegung musste die Variante Leitungssicherung jetzt jedoch erneut diskutiert werden. Der Teilnehmerkreis konnte auf EnBW, DB PSU und WBI beschränkt werden. Aufgrund des bereits zeitkritischen Projektablaufs mussten die Besprechungen in enger Folge durchgeführt werden.

Insbesondere an der Sohle des Schachtes I6UN155 und der Sohle des anschließenden Pressrohres DN 2000 waren Eingriffe unumgänglich, da die Bauteile mit dem Lichtraum- bzw. dem Ausbruchprofil des Tunnels kollidierten (Bild 4). Die Variante wurde daher durch den Betrieb der EnBW zunächst in mehreren Gesprächsrunden abgelehnt. Schließlich gelang es WBI die Lösung derart zu optimieren, dass die verbleibenden Einschränkungen im Bereich des Dükers auch für EnBW akzeptabel waren. Im Hinblick auf die bautechnische Umsetzung, wurde die ausführende ARGE von der DB PSU in dieser Phase beratend eingebunden. Nach intensiven Bemühungen der Parteien erteilte die EnBW im April 2019 schließlich ihre Zustimmung zur optimierten Variante der Leitungssicherung.

3.2 Maßnahmen im Bestand

Die Ausführungsplanung wurde durch WBI umgehend fertiggestellt. Die Maßnahme umfasste den abschnittsweisen Abbruch der bestehenden Schachtsohle. Die Schachtwände wurden dabei unterfangen und eine neue Stahlbetonsohle wurde in höherer Lage jedoch unterhalb der Stahlrohre DN 600 in den Schacht und den ersten Rohrschuss des Pressrohres eingebaut (Bild 6). Da weitere dauerhafte Eingriffe in das Pressrohr nicht zulässig waren, war es aus geometrischen Gründen erforderlich, die Firste des Fernbahntunnels im kritischen Bereich abzuflachen (Bild 6 + 7). Die Fugen zwischen den Rohrschüssen des Pressrohrs wurden als vorlaufende Maßnahme für die Überfirstung des Tunnels temporär gesichert.

Die Arbeiten mussten im laufenden Betrieb der Fernwärme ausgeführt werden. Ein Rückbau der Installationen der EnBW war daher nicht möglich. Die gesamte Andienung, inklusive der Lieferung von Stahl und Beton, musste durch die Öffnung des Schachtes I6UN155 erfolgen. Diese wurde daher auf eine Rechtecköffnung von 1,5 x 1,5 m erweitert. Durch die Lage im Verkehrsraum war die zur Verfügung stehende BE-Fläche sehr gering. Die Arbeitsstätte war zudem nur über eine Leiter erreichbar. Erschwerend betrugen die Temperaturen dauerhaft mehr als 30 °C infolge des Betriebs der Fernwärmeversorgung. Für die Arbeiten im Bestand musste daher ein entsprechendes SiGe-Konzept erstellt werden.

Wichtig war der Beginn der Arbeiten im Hochsommer 2019, da Abschnitte der Stahlrohre DN 600 der Fernwärmeversorgung vorlaufend ausgetauscht werden mussten. Diese Arbeiten konnten nur im Sommer außerhalb der Heizperiode erfolgen. Eine verspätete Planfreigabe hätte somit einen Verzug der Arbeiten von etwa neun Monaten zur Folge gehabt. Die Abstimmung der Ausführung erfolgte mit der EnBW partnerschaftlich auf kurzem Weg. Die Planung der Leitungssicherung stellte sich als gut umsetzbar dar. Dies wurde auch durch die Flexibilität der bauausführenden ARGE Tunnel Cannstatt sichergestellt. Bereits im August 2019 wurde mit der Leitungssicherung begonnen. Die Maßnahmen in Schacht und Pressrohr konnten im November 2019 abgeschlossen werden.

4 Überfirsten des Tunnels 4.1 Planung zur Minimierung der Setzungen

Nach Ausführung der Sicherungsmaßnahmen im Schacht und Pressrohr der Fernwärmeversorgung konnte der Tunnel in die planmäßige Endlage zurückverlegt werden. Auf Grund vorhandener Anlagen in der Nordbahnhofstraße musste das Überfirsten des Tunnels setzungsarm erfolgen. Insbesondere die Bauteile der Fernwärmeversorgung, die Gleise der Straßenbahn und Gasleitungen, die in der Straße verlegt sind, waren diesbezüglich sehr sensibel. Weiterhin durften die Spannungsumlagerungen und die daraus resultierenden Verschiebungen im Baugrund keine unzulässigen Beanspruchungen des Pressrohrs DN 2000 zur Folge haben.

Daher wurde von WBI eine Lösung für das Überfirsten erarbeitet, bei der zunächst eine Sohlauffüllung und ein Spritzbetonsohlgewölbe in den tiefer geführten Tunnelabschnitt eingebaut wurde. Das Überfirsten des Tunnels wurde anschließend mit kurzen Abschlaglängen ausgeführt. Dabei wurde jeweils die Sicherung des Gewölbes an die Spritzbetonschale in der Sohle angeschlossen. Auf diese Weise wurde immer ein frühzeitiger Ringschluss erreicht, der für die Minimierung der Setzungen maßgebend ist. Die Nachweise wurden auf der Grundlage von Berechnungen nach der FE-Methode geführt (Bild 8).

Zur vorauseilenden Sicherung waren insgesamt drei Rohrschirme vorgesehen. Der Rohrschirm 1 wurde im Westen aus einer bestehenden Nische mit einer Neigung gegen die Tunnelachse von 13° bis an den Schacht I6UN155 heran hergestellt. Anschließend wurden zwei 6 bzw. 8 m lange Nischen im Schutze von Spießen aufgefahren. Aus diesen heraus wurden die Rohrschirme 2 und 3 von Westen bzw. Osten mit einer Neigung von 1° eingebaut (Bild 9 + 10). Die Bohrrohre des Rohrschirms 2 mussten im Bereich des Schachtes im Firstsektor ausgespart werden. Um eine Beschädigung der Bauteile der Fernwärmeversorgung zu vermeiden, mussten die Längen der Bohrrohre zudem teilweise angepasst werden. In den betreffenden Abschnitten wurde der vorauseilende Kopfschutz durch den Einbau von Spießen ergänzt (Bild 9–11).

4.2 Ausführung

Die Arbeiten erfolgten von November 2019 bis Januar 2020. Bei der Überfirstung des Tunnels waren die im Baugrund vorhandenen Elemente der Sicherung, die im Zuge des tiefergeführten Vortriebs eingebaut wurden, abzubrechen und rückzubauen (Bild 12). Die im Bereich des Schachtes geringen Abschlagtiefen von 50 cm und die Kombination der vorauseilenden Sicherung aus Rohr- und Spießschirmen stellten ebenfalls besondere Herausforderungen dar (Bild 13).

Der Rückbau der Außenschale erwies sich als in besonderem Maße schallübertragend. Während der Arbeiten wurden den in unmittelbarem Umfeld betroffenen Anwohnern daher Übernachtungsmöglichkeiten seitens der DB PSU angeboten.

Unabhängig von den ungewöhnlich schwierigen und besonderen Randbedingungen konnte der Vortrieb zur Überfirstung des Tunnels gemäß der freigegebenen Ausführungsplanung im Zeitraum November 2019 bis Januar 2020 erfolgreich ausgeführt werden. Die zulässigen Grenzwerte für die Verschiebungen im Tunnel, in den Bauteilen der Fernwärmeversorgung und an der Geländeoberfläche wurden eingehalten.

5 Fazit

Die Herstellung der Innenschalenblöcke mit abgeflachter Firste und Sonderschalung wurde im Juni 2020 abgeschlossen. Somit ergibt sich einschließlich der Ertüchtigungsmaßnahmen im Bestand der Fernwärmeversorgung eine Gesamtbauzeit von unter einem Jahr.

Gegenüber der ursprünglichen Vorzugsvariante einer Leitungsverlegung mit Schachtneubau, deren Umsetzbarkeit aufgrund der schwierigen Randbedingungen sich äußert schwierig gestaltete, konnten mit der ausgeführten Lösung deutliche wirtschaftliche Vorteile erzielt werden. Die Bauzeit konnte um ca. 9 Monate verkürzt werden. Für die Projektbeteiligten stellte sich die Umplanung somit als Erfolg dar.

References/Literatur
[1] Wittke, W.: Rock Mechanics Based on an Anisotropic Jointed Rock Model (AJRM), Verlag Ernst & Sohn GmbH & Co. KG, Berlin 2014. ISBN-Nr.: 978-3-433-03079-0
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